Hier möchten wir wiederholen, dass Nelli nicht zur Bühnenkünstlerin wurde – sie schaltete innerlich auf die Regie um. Als sie aber mit 30 Jahren das Studium an der Fakultät für Regie des Leningrader Krupskaja-Kulturinstituts aufnahm, wurde ihr mit aller Deutlichkeit bewusst, dass dieser Zug auch schon fort war.
Und sie begann zu unterrichten, zumal sie das Pädagogische Institut (Fakultät für Geschichte) und das Institut für die Fort– und Weiterbildung von Lehrkräften absolviert hatte. Allerdings war die Vergütung so gering, dass sie neue Berufe lernen und nebenbei verdienen musste: Führungen machen, im Auftrag der Gesellschaft «Znanije» («Wissen») Vorlesungen halten. Während ihrer Tätigkeit als Touristenführerin machte sie nie zwei gleiche Führungen. 1989 begann sie bei der Gosstrach (Staatsversicherungsamt) zu arbeiten.
Eines Abends kam auf Nelli Jewgenjewna, der Russin dem Pass nach, in der Majakowski Straße ein ungefähr dreißigjähriger starker Bursche mit kurzem Haar zu, presste sie an die Wand und zischte, wobei ihm Alkoholgeruch und Hass vorangingen: «Raus, du, yid Schnauze, du, jüdische Fresse! Sowieso werden wir euch alle aus der Mitte herausbeißen».
Halbblut, Mischling, jüdische Fresse!
Nelli Jewgenjewna Pozner kam nach Hause, verschnaufte sich, fand die von der Synagoge ausgestellte Geburtsurkunde ihres Vaters – und ging schon am nächsten Tag ins deutsche Konsulat.
Im Antrag (man schrieb das Jahr 1995) gab sie das Bundesland Baden-Württemberg an – nur weil ein guter Bekannter von ihr auch dorthin auswandern wollte. Der Bekannte erhielt keine Genehmigung, aber sie schon, wenn auch nach etwas längerer Wartezeit – nur im Jahr 2000. So landete sie in Freiburg.
Sie kam hierher nicht alleine, sondern mit ihrem Ehemann Heino, einem Esten von der Nationalität. Damals schlossen viele Menschen Scheinehen mit Juden und Jüdinnen, um auszuwandern. Als der Konsul allerdings im Album mit ihren Fotos aus Estland blätterte und auf sie beide guckte, freute er sich nur für sie: In ihrem hohen Alter fanden die Menschen einander.
Der Israelitischen Gemeinde dürfte Nelli Pozner – die «Halbblut» und die «Yid Schnauze!» – nicht beitreten.