Kurz vor Anbruch des neuen Jahres 1942 wurde drei Tage überhaupt kein Essen ausgegeben. Es hieß, dass auch die Brotfabrik keinen Strom hatte. Danach gab es nachträglich gepresste «Lebkuchen».
Da man kaum noch Kraft hatte, lag die ganze Familie fast die meiste Zeit. Nichts – nicht mal Kino – interessierte. Was kann auch in einem solchen Zustand interessieren, außer Essen; und ein bisschen – ein ganz kleines Bisschen – Lesen.
Auch die Kommunikation mit anderen Menschen, selbst mit den Nachbarn, kam langsam zum Erliegen. Ging man raus ins Treppenhaus, kriegte man mit, dass wieder jemand gestorben ist.
Im Februar 1942 besorgte der Bruder der Mutter Papiere, die es der Familie Peskin erlaubten, evakuiert zu werden. Und die Familie Peskin verließ die Stadt: Zu Fuß, bei minus 34 Grad, schlugen sie sich zum Finnischen Bahnhof durch. Von dort ging es mit dem Zug weiter bis zum Ladogasee, wo sie auf Busse umstiegen, die sie über den «Weg des Lebens», den die Deutschen selten beschossen, ans andere Ufer des Ladogasees brachten. Von dort ging es wieder weiter mit dem Zug, genauer gesagt einem Güterwagen mit Regalen und Kanonenöfen. Etwa nach zwei Monaten erreichten sie Alma-Ata. Dort gab es eine Sammelstelle, von der aus die Familie Peskin nach Ust'-Kamenogorsk im Osten Kasachstans weiter geschickt wurde. Bis dahin gab es dort noch kaum Evakuierte. Vor allem lebten dort deportierte Wolgadeutsche.
Die Familie lebte hier anderthalb Jahre in einem Dorf bei Kamenogorsk. Der Bruder wurde in die Armee einberufen und Leva arbeitete als Hirte. Dann kam eine Nachricht von einem anderen Bruder der Mutter und die Familie Peskin zog nach Tscheljabinsk. Auf dem Weg mussten sie in Novosibirsk Halt machen, wo ihnen eine Genehmigung erteilt wurde, ohne die sie nicht nach Tscheljabinsk hätten weiterfahren dürfen.
In Tscheljabinsk befand sich das Traktorenwerk, das während des Krieges Panzer herstellte. Dort arbeitete Lev Peskin bis 1946 als Schlosser. Die anderen Arbeiter zögerten nicht, vor einem von ihnen zu sagen, dass alle Juden von der Front in den Ural geflohen wären und da die größten Schädlinge seien. Wenn es zu Entlassungen kam, waren vor allem Juden davon betroffen. Leva blieb als einfacher Schlosser davon verschont. Wäre er ein Meister gewesen, wäre ihm sofort gekündigt.
Den schlimmsten Eindruck bekam die Familie Peskin von der Stadt Novosibirsk mit ihrem gigantischen Bahnhof. Es lief wieder eine Deportation und der ganze Bahnhof war voller Menschenmassen. Auch in Tscheljabinsk konnte man viele ausgehungerte Menschen sehen. Zweimal im Monat gab es in der Fabrik einen freien Tag, an dem keiner arbeitete.