Und er brauchte dringend Personal! Das war eine Kärrnerarbeit schlechthin – Staatsanwältin der Straf– und Gerichtsabteilung. Sie musste vor dem Gebietsgericht Gutachten in allen Sachen erstatten, aber auch in die Staatsanwaltschaft kommen und dort Berichte erstatten – und dabei absolut in allen Sachen, über die das Kassationsgericht verhandelte!
Kurz und gut arbeitete Anna Iossifowna dort rund ein Jahr lang, ging in Karenz, brachte einen Sohn zur Welt und ging nie wieder dorthin zurück. Nach zwei Jahren trat sie ins Moskauer Rechtsanwaltskollegium ein. Von 1948 bis 1996 – fast 50 Jahre lang! – war sie in diesem Kollegium tätig, und zwar immer in derselben Beratungsstelle. Sie führte sowohl Straf-, als auch Zivilsachen und wurde mehrmals bis zur stellvertretenden Leiterin befördert. Nahezu 30 Jahre lang war sie eines der «Arbeitstiere» im Kollegium. Die Gesamtdauer ihrer Berufstätigkeit beträgt ca. 60 Jahre!
Es wurde aber Zeit auszuwandern. Sie fuhren am 22. Mai 1996 weg, und noch am 16. Mai wurde das Urteil in einer der von Anna Iossifowna geführten Sachen verkündet! Sie war damals knapp 80 Jahre alt!
Zuerst lebte die Familie in Freiburg, jetzt sind sie in München sesshaft.
Psychologisch war es sehr schwierig, nach allen Verlusten (Mutter, fast alle Verwandten) nach Deutschland zu kommen. Aber die Art und Weise, wie die Deutschen die Juden aus der ehemaligen UdSSR empfingen, imponiert ihr sehr – genauso wie die Haltung der Deutschen zum Holocaust. Während der in Deutschland verbrachten Zeit stieß sie nie auf den Antisemitismus.
Der Enkelsohn und die Enkeltochter absolvierten Unis in der BRD, die beiden sind promovierte Wissenschaftler und begabte Menschen. Obwohl der Sohn in Moskau blieb, besucht er sie häufig. Er ist Verleger und kommt daher häufig zur Frankfurter Buchmesse.
2012 schrieb Anna Iossifowna ein Buch über ihr Leben – nicht für jedermann, sondern für den nahen Kreis, vor allem für ihre Familie.
Am 13. Februar 2016 feierte sie ihren 99. Geburtstag!