Der Vater ging an die Karelisch-Finnische Front, wo er sich zunächst zum Flieger ausbilden ließ. Nelli, ihre Mutter und Tante, eine Klavierspielerin und Schülerin von Glasunow, blieben in der Stadt. Am Vorabend des 7. November fiel eine Bombe auf ihr Haus, aber die Wohnung wurde nicht zerstört, nur Fensterscheiben und Türen flogen heraus. Am nächsten Tag fanden die hergeschickten Soldaten die Tür und hängten sie ein, nagelten Sperrholz vor die Fenster, und danach kam das Tageslicht nie in die Wohnung hin, sie wurde nur mit einem kleinen Lämpchen beleuchtet…
Zwei Erlebnisse haben sich im Gedächtnis fest verankert. Einmal gingen Nelli und ihre Mutter Brot holen. Das Brot an sich war furchtbar – schlecht ausgebacken, feucht, schwer, mit Schalen von Sonnenblumenkernen und Lehm. Auf vier Lebensmittelkarten wurden ihnen je 125 Gramm Brot, insgesamt also 500 Gramm, abgegeben: Ein halber Laib und eine Zugabe. Mama drückte das Brot fest an sich, aber plötzlich rannte ein Bube – ein Handwerker – auf sie zu, schnappte ihr das Brot weg und machte sich auf die Socken. Mama schrie, und aus der Nachbarstraße kamen zwei streifende Soldaten und ein Offizier angerannt. Sie holten den Dieb rasch ein und brachten ihn her. Sein ganzer Körper war geschwollen, die Augen eng wie Schlitzen, krampfhaft und total verwirrt kaute er ihr Brot: Es war ihm schon egal, was man mit ihm machen wird – töten oder ins Gefängnis sperren. Seine einzige Bestrebung war, dieses Brot fertig zu kauen! «Dieser?», fragte der Offizier. – «Nein, nicht dieser. Jener war viel größer». Dieser Bube und die Einsicht, dass manche Diebstähle unbedingt verziehen werden müssen, prägte sich das Gedächtnis des 9-jährigen Mädchens für das ganze Leben ein.
Das zweite Erlebnis. Schon während des Krieges brachten sie zwei riesige Bündel schmutziger Wäsche in die Wäscherei. Dann ging es richtig los mit Beschüssen und Bombenangriffen, das Haus wurde zerbombt. Niemand dachte an die Wäsche in der Wäscherei… 1945 erhielten sie plötzlich eine Benachrichtigung per Post: Sie können ihre Wäsche aus der Wäscherei abholen! Damals bestanden die Habseligkeiten der Pozners aus einem einzigen großen Koffer und nun hatten sie plötzlich zwei riesige Bündel Wäsche! Alles war gestärkt und schneeweiß – Omas Tischdecken, Steppdecken und sogar drei Konzerthemden. Was für ein Reichtum! Was für bewundernswerte Moralvorstellungen! Während der Blockade herrschte in Leningrad trotz alledem Disziplin, die Menschen waren mut– und verantwortungsvoll – deswegen hielt die Stadt durch.